Jahreskonferenzen

Was tun

Politisches Handeln jetzt

Berlin 2016

Konflikte aushalten und sichtbar machen

Konferenz zum 60. Jubiläum der Dramaturgischen Gesellschaft erfolgreich beendet

Die Philosophin Nikita Dhawan mahnt zu überlegtem Handeln statt in Aktionismus zu verfallen, die Choreografin Helena Waldmann schickt Dramaturg*innen durch Berlin, um Obdachlosenzeitungen zu verkaufen, Bundestagsabgeordnete glauben nicht an die Gefährdung der deutschen Theaterlandschaft durch die Schuldenbremse und die Dramaturgische Gesellschaft sucht Mitglieder mit Migrationshintergrund: Nach vier Tagen ist am vergangenen Sonntag im Deutschen Theater Berlin die Konferenz „Was tun. Politisches Handeln jetzt“ der Dramaturgischen Gesellschaft (dg) mit einer Vielzahl an praktischen und theoretischen Impulsen und konkreten Aktionen zu Ende gegangen.

Erst denken, dann handeln

Mit einem flammenden Plädoyer setzte der Soziologe Ingolfur Blühdorn den Rahmen für die Konferenz, für die über 400 Theatermacher*innen und über 50 Referent*innen in Berlin zusammengekommen waren: Aufgabe von Kunst könne es nur sein, die Widersprüche unseres nicht-nachhaltigen Gesellschaftssystems sichtbar zu machen, sie aber auch auszuhalten. Permanente Handlungsaufforderungen seien kontraproduktiv. Die Philosophin Nikita Dhawan forderte, den Raum zwischen gesellschaftlichem Konsens einerseits und sich unversöhnlich gegenüberstehenden Interessengruppen andererseits für produktiven Agonismus zu nutzen.

Vereinnahmung der Kunst und spielerische Versuchsanordnungen

Ob das Sichtbarmachen gesellschaftlicher Widersprüche als Aufgabe eine Vereinnahmung der Kunst bewirke, gegen die sich u.a. der Autor Lukas Bärfuss vehement aussprach, blieb als Frage im Raum. Zu untersuchen, wie die Dinge laufen und warum sie so laufen, nimmt sich das Künstlerduo Christiane Kühl und Chris Kondek in seinen spielerischen Versuchsanordnungen vor – und zeigt damit, dass politisches Theater auch höchst unterhaltsam sein kann.

Großes Interesse der Politik an Kultur, überraschendes Ergebnis

Erstaunliches förderte der intensive zweistündige Meinungsaustausch der Konferenzteilnehmer*innen mit etwa 40 Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen in den Räumen des Deutschen Bundestages zutage: Nach Überzeugung der anwesenden Abgeordneten gehe von der ab 2020 greifenden Schuldenbremse keine ernsthafte Gefahr für die deutsche Theaterlandschaft aus.

Dramaturg*innen ohne Migrationshintergrund, Dramaturgie in die Schulen

Nikita Dhawan forderte die Konferenzteilnehmer*innen auf, sich bewusst zu machen, für wen sie Theater produzieren. Zugleich wies sie auf einen dramatischen Mangel hin: In der dg (wie in den öffentlich geförderten Theatern insgesamt) gibt es zu wenig Menschen mit Migrationshintergrund. Während die Performerin Zandile Darko nachdrücklich Diversität bei der Besetzung von Ensembles und Regiepositionen einforderte, sieht die dg die Notwendigkeit, das Bewusstsein für die strukturelle Bedeutung auch der Dramaturgien in diesem Zusammenhang zu stärken. Eine große Chance dafür könnte die angestrebte Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Theater in Schulen (BVTS) bieten, der die dramaturgische Praxis künftig stärker im Unterricht und in der Ausbildung von Theaterlehrenden verankern will.

Konkrete Handlungen

Viele weitere Impulse gingen von der Konferenz aus: Die Akteur*innen der „Konferenz Konkret“ retteten das Stadttheater in drei Stunden und schickten einen Boten mit Forderungen an den Deutschen Bühnenverein. Der Zukunftsforscher Reinhold Leinfelder betonte die Rolle der Künste bei der Entwicklung positiver Utopien, um die Gestaltung der Zukunft als erstrebenswerte Aufgabe annehmen zu können. In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung wurde über politisches Theater in anderen Ländern sowie über politischen Aktivismus im Internet diskutiert. Die AG Musiktheater innerhalb der dg veranstaltete erstmals ein eigenes Panel über politisches Musiktheater und der Landesverband Freies Theater Berlin (LAFT) bot Beratung für Berliner Künstler*innen an.Die Frage, wie Theater heute politisch sein kann, wurde auf der Tagung nicht im Sinne einer prompten Handlungsanweisung beantwortet. Stattdessen boten sich überaus vielfältige Denkansätze, um die Spielräume des (politischen wie auch des künstlerischen) Handelns in Zeiten rasanter gesellschaftlicher Veränderungen mit Bedacht unter die Lupe zu nehmen und auf lange Sicht zu erweitern. Die Theaterbetriebe „beweglich“ zu halten, wie Gastgeber Ulrich Khuon formulierte – darum müsse es jetzt gehen.Die Dramaturgische Gesellschaft, 1956 in Berlin gegründet, vereint Theatermacher*innen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Sie versteht sich als Plattform für den Austausch über die künstlerische Arbeit, die Weiterentwicklung von Ästhetiken und Produktionsweisen und nicht zuletzt über die gesellschaftliche Funktion des Theaters. Zu den 750 aktiven Mitgliedern der dg zählen Theatermacher*innen aus allen Genres und allen Organisationsformen des Theaters. Von den einmal im Jahr an unterschiedlichen Orten stattfindenden Konferenzen und zahlreichen weiteren Aktivitäten der dg gingen und gehen wichtige inhaltliche Impulse für die Theaterarbeit aus – sowohl künstlerisch als auch (kultur-)politisch. Gemeinsam mit der Stadt Frankfurt/Oder, den Ruhrfestspielen Recklinghausen sowie einem jährlich wechselnden Theater verleiht die dg außerdem den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen. Preisträger 2016 ist der österreichische Autor Thomas Köck für sein Stück „paradies fluten“.

dramaturgie-2016-01 [PDF-Datei 6 MB]
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