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Arne Vogelgesang: Konferenzbeobachtung

2021. Ganz Deutschland ist von dem Virus besetzt. Theater sind geschlossen, doch die Show must go on. Wohin mit den Leuten, wenn ihre Körper zuhause bleiben müssen? Teile und versammle!

Die Dramaturgische Gesellschaft hat ihre Jahrestagung nicht nur inhaltlich dem mehr oder minder aufgezwungenen Digitalisierungsschub im Theaterwesen gewidmet und die branchenprägende fragile Zwangsbegeisterung mit dem Titel „Dig It All“ auf den Punkt gebracht, sie hat das Tagungsformat selbst digital fragmentiert. Während der erste Konferenzteil im Januar 2021 den Input-Aspekt von Talks und Workshops auf die VR-Plattform Mozilla Hubs verlegte – die Teilnehmenden Figuren, die in den digitalen Raum geworfen wurden –, stand der zweite Teil am letzten Märzwochenende unter dem Regime des publizierten Spielens: #LetsPlay.

Die Gastgeber:innen dieses Unterfangens – Sarah Fartuun Heinze, Christiane Schwinge und Friedrich Kirschner mit dem Studiengang Spiel und Objekt der HfS – hatten für zweieinhalb Tage eine Dramaturgie von Spielen, Spielenden und Themen gebaut, die sich im Format des Let‘s Plays trafen, also des gemeinsamen Spielens und parallelen Redens für ein Publikum. Der Einfachheit halber könnten wir dies Schau-Spielen nennen – denn das ist, worum es bei Let‘s Plays geht – aber das würde die Distinktion erschweren, die dem Wochenende notwendigerweise zugrunde lag und von den Initiator:innen gleich in den ersten Minuten der Konferenz-Eröffnung, tongue in cheek, pointiert wurde: „…aber Theater machen wir heute ja nicht.“

Ich könnte einen eigenen Text darüber schreiben, weshalb Theater- und Schauspiel sich noch immer bemühen, (nicht nur) digitale Spiele als ihr Anderes zu begreifen, obwohl „Spiel“ doch offensichtlich eine geteilte Oberkategorie ist. Doch darum soll es hier nicht gehen. Mein Game ist es vielmehr, dem gesamten Programm gefolgt zu sein, nun meine parallel auf Twitter hinterlegten Fetzen von Berichterstattung zu Lesbarem zu verschmelzen und ab und zu ein bisschen Brecht einzubauen, damit die dramaturgische Gesellschaft und ich sich zu Hause fühlen können. Analog zum Bogen der einzelnen Programmpunkte habe ich mit launigem Honken begonnen und arbeite mich in Folge zu jenem Punkt vor, an dem ich diesen Artikel kurzerhand von „der KI“ zu Ende schreiben lassen kann. Honk honk!

Der schnatternden Protagonistin des Indie-Games „Untitled Goose Game“ wurde die Aufgabe zuteil, den Gastgebenden die Einführung in das Format zu erleichtern. UGG ist ein Folge von Slapstick-Szenarien, in denen Spielende mittels Steuerung einer Gans die alltäglichen Ordnungsabläufe der Bewohner:innen eines beschaulichen Dorfes stören. Die Streiche dieser Max-und-Moritz-Figur sind bezeichnenderweise in Form von To-Do-Listen organisiert. Die agile Gans passte also einerseits zum Selbstbild vieler Kunstprojektschaffender, andererseits aber auch zur Rolle, die das gemeinsame Spielen in diesem Tagungsteil auszufüllen versprach: nämlich das notorisch unbefriedigende Panelformat gestellter Gespräche durch die Notwendigkeit des Bezugs auf die Spielvorgänge ordentlich durcheinanderzubringen. Was trotzdem, auf mehreren Ebenen, Arbeit bleiben würde – Aushandlungsarbeit.

Auszuhandeln war einerseits das Kollektiv der Spielenden: Wenn eine von drei Personen die Spielfigur steuert und die anderen beiden dabei zusehen, gegenüber dem übrigen Publikum aber das Privileg des Mitentscheidens über die Spielhandlungen haben, konstituiert sich das Spieler:innen-Wir über ein Gespräch, in dem das Machtgefälle des physischen Zugriffs auf die Steuerung kompensiert wird. Wechselt dieses gemeinsame Gespräch auf andere Themen als den Spielvorgang selbst, zieht das spielende „Wir“ sich wieder auf die steuernde Person zurück – also auf den Körper. In den im Konferenzverlauf folgenden Spielsitzungen gab es sehr verschiedene Variationen dieser Arbeitsteilung unter den Spielenden zu beobachten.

Diese Aushandlung und körperübergreifende Organisation von Figurenführung ist aber auch die Struktur von Let‘s Plays schlechthin, die in der darstellenden Kunst am ehesten vielleicht noch Formen des Kinder-, Puppen- und Improvisationstheaters ähnelt. Während dieser Vergleich uns in der darstellenden Kunst Tätige anheimeln mag, sei hier aber auch darauf hingewiesen, dass aufgezeichnete und live gestreamte Let‘s Plays ein Milliardengeschäft sind, von dessen Zuschauerzahlen bei Menschen unter 40 herkömmliche Theaterformen nur träumen können. Verdienen freilich tun an diesem Geschäft nur diejenigen, die die Figurenführung kontrollieren können. Und die Plattformen. Teilhabe ist mehr denn je eine Ware.

Aushandlungsarbeit war in der Einführungsrunde auch der Spielvorgang selbst. Beratschlagen über jene Handlungsketten, die in „Untitled Goose Game“ die berechenbare Arbeit der Nichtspielercharaktere ebenso berechenbar unterbrechen könnten. Geschickte Wechsel zwischen dem Spiel selbst und seiner Funktion als Expositionsvehikel, mit dem den Zuschauenden Format, Zweck und Methoden nahegebracht werden konnten – bis hin zur für Live-Let‘s-Plays so wichtigen Partizipation via Chat. Wechsel letztendlich nach Abbruch des Spiels in die Präsentation des Produktionsraumes, der das Schau-Spielen endgültig als jene Arbeit sichtbar machte, die es nun einmal ist.

Dieser Text würde zu lang werden, wenn ich nun alle Spielesitzungen der folgenden beiden Tage einzeln behandeln würde. Außerdem, wofür hätte ich dann getwittert? Deshalb sind die beiden kommenden Absätze ein Komprimat jener Beobachtungen, aus denen mir am ehesten Lernpotential für‘s Theater entgegenleuchtet – ein Versuch, die Botschaften der Tweets zu verarbeiten und sie in eine „Form“ zu gießen, die schreibend und lesend zugänglich ist. Vieles davon hat weiterhin mit der Aushandlung von Aufgaben und Machtverteilungen zu tun.

Zum Beispiel mit gemeinschaftlicher Figurenerstellung als Politisierung individueller Idiosynkrasien. Interaktive wie -passive Spiele resozialisieren arbeitsteilige Spezialisierungen. Dies kann von den Beteiligten als Befreiung aus überkommenen Hierarchien erlebt werden, solange sie ausblenden, dass „sozial“ im Internet nicht das Gleiche bedeutet wie sonst – das digitalisierte „Soziale“ als Markt und Medium ist durchaus anders bespielbar. Die neuen Machtverhältnisse finden sich auch in digitalen Spielen nachgeformt, etwa dergestalt, dass nicht nur die Spielenden das Spiel interpretieren, sondern auch das Spiel die Spielenden – so realisiert sich algorithmisch verwaltete Teilhabe überhaupt erst. Auf der narrativen Ebene geschieht dies in der Regel in Ringeldramaturgien – Ketten zwischen Handlungspunkten, von denen kleine Aktionskreise ausgehen und sich wieder schließen. Die Doppelfunktion der Spielenden in diesem Machtgefüge ist es, sowohl Regie zu sein, die im Rahmen der Spielarchitektur den Handlungsverlauf gestaltet, als auch Darstellerin dieses Verlaufs auf der Plattform/Bühne des Spiel. Der integrierte Feedbackloop zwischen Zuschauen und Steuern, wie z.B. im Brechtschen Lehrstück. Nur, dass im „klassischen“ Lehrstück der Zweck klarer gesetzt war: Wer weiß heute noch, was bei all dem zu lernen wäre? Oder zu tun?

Handlungsanweisungen zu geben oder Handlungsmöglichkeiten zu beschränken, ist der spielerische Grundvorgang und er kann andere Fragen zumindest zeitweise suspendieren. Will ich ein Spiel spielen, wenn ich nicht weiß, worum es geht? Was ist das „Worum“ eines Spiels eigentlich? Und wie erfahre ich davon? Spiele dampfen die sogenannten „Menschheitsfragen“ auf ihre eigene Struktur ein. Manchmal sind sie wie ein Bett, in das sich die Gedanken legen dürfen, um jene Geschwister zu träumen, von denen sie bei Geburt getrennt wurden. Manchmal sind sie Machtspiel mit der eigenen (Un-)Lesbarkeit und dem immersionsvergrößernden Illusionsbruch. Ob so oder so oder anders: Hinter jeder Formentscheidung verbirgt sich eine Haltung, die sich ein bestimmtes Publikum nicht nur herbeiwünscht, sondern vor allem auch produziert. Oft zusammengezogen auf einen beliebig kopierbaren Augpunkt: Vielleicht stellt nur die Egoperspektive die Furcht vor dem Tod adäquat dar, und legitimiert so das Töten. Auf der anderen Seite aber – jenseits dieser Perspektive – liegt die Chance für eine reflektierte Kollektivierbarkeit von Lust und Frust, bevor die Furcht überhand nimmt. Spiele können beides, manchmal gleichzeitig. Die (Selbst-)Reflexion beim Spielen, gegen die die Form gleichzeitig anarbeitet, ist der Ort des ästhetischen Genusses. Ein gutes Let‘s Play ist dialektisches Theater.

Ein guter Text ist aber auch mehr als ein Reibekuchen von Sätzen. Schuld daran, dass dieser Text nur unter Zeitdruck fertig geschrieben werden konnte, war das Spiel Stellaris, das ich nach dem Ende der Konferenz zwei Wochen lang binge-spielen musste, um seinen Reiz nachzuvollziehen. Körperlicher Nachvollzug bleibt wohl der Kern selbst des digitalisiertesten Theaters und ich kann von meiner Erfahrung nicht mehr berichten, als dass sie Lebenszeit einnahm. Manchmal brauchen wir verdichtetes Leben – wie auf der Bühne – wenn‘s gut läuft – und manchmal brauchen wir gedehntes Leben. Leben auch dehnen zu können, ist ein leicht zu unterschätzendes Feature von Spielen und auch des Theaters. Oft, weil wir bei letzterem jene Dehnung aus dem „Produkt“ verdrängt, das seine Herstellung ausmachte. Auch das mag ein Plädoyer sein für ein spielerischeres Theater, das sich selbst nachvollziehbarer macht. Das seine eigenen Produktionsbedingungen auch im Spiel reflektieren kann. Solches Spielen-Sehen steckt an, und dass aus Zuschauenden leichter wieder Spieler:innen werden mögen, könnte eines der zugänglicheren Versprechen digitaler Theaterformen sein.

Jenem Spiel, das den Anspruch der Nachvollziehbarkeit einerseits auf der konzeptuellen Ebene komplett einlöste, auf der technischen aber ebenso komplett verschleiert hielt, galt die letzte Runde von #LetsPlay: AIdungeon. Der Text dieses Adventures, das aus nicht mehr als Text besteht, ist nämlich von einem Machine-Learning-Algorithmus generiert. Das hat zwei Effekte auf mich als Zusehenden: 1. Ich erwarte weniger „künstlerische“ Kohärenz. 2. Ich begreife mich sofort als Mitautor, da, was immer ich dem Spiel als Frage oder Anweisung eintippe, zur Basis des nächsten Textstücks wird. So wird Autorschaft neu verteilt (was Brecht im Lehrstück nicht geschafft hatte). Autorschaft alleine macht natürlich noch keine Kunst, aber vielleicht ist „Kunst“ auch so was wie die Essensreste von letzter Woche in der Tupperdose hinten im Kühlschrank. Ein Problem, das wir ohne Hilfe von Algorithmen nicht lösen können.

Wenn KI schon keine höheren ästhetischen Ziele verfolgt, kann das, was sie produziert, dann trotzdem ein Kunstwerk sein? Oder ist es „nur“ ein Spiel, dessen Regeln wir nicht kennen? Das kunsttheoretische Problem ist nicht neu: Artifical Intelligence kann keine höheren Ziele verfolgen als die, die ihr von außen vorgegeben werden. Wenn der Autor Yvonne Höller, in Zusammenarbeit mit dem Künstler Markus Stoll und dem Programmierer Sebastian Rene Baumgarten, den Textgenerator mit Tweets des „Online-Magazins für Neue Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis“ angetrieben hat, dann ist es jedoch kaum zu erwarten, dass sich die KI ausgerechnet für das Erschaffen von Kunstwerken interessiert.

Vielmehr ist #AIdungeon ein Versuch, die Botschaften der Tweets zu verarbeiten und sie in eine „Form“ zu gießen, die schreibend und lesend zugänglich ist. Eine solche Form ist der Text. Dabei hatte die KI einen lange Zeit gar nicht vor, sich für Kunstwerke zu interessieren. #AIdungeon ist also etwas anderes als die generativen Algorithmen von Google – und dennoch setzt auch die KI ihre semantischen Potentiale frei, um eine Figur zu erschaffen, die dann in den digitalen Raum geworfen wird.

 

Geschrieben von Arne Vogelgesang & GPT-3/OpenAI (geprompted von Tina Lorenz)