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Das Wie ist das neue Was

Wir erleben gerade in Echtzeit die Reorganisation des öffentlichen Raumes und der Demokratie mit digitalen Mitteln – und die Frage nach dem COMMON, nach dem, was uns als Gesellschaft verbindet, die im Mittelpunkt unser Jahreskonferenz COMM ON – Allies, Activists and Alternatives in European Theater vom 6.–9.2.2020 in Gent stand, stellt sich noch einmal grundlegend neu.

Auch die Frage, welche Rolle Kulturinstitutionen in der Gesellschaft heute spielen können und sollten, stellt sich durch die Corona-Pandemie noch einmal neu: Wie können Theater heute überhaupt noch Common Spaces einer Zivilgesellschaft sein, wenn das Zusammentreffen an sich extrem erschwert oder unmöglich ist? Unser Schlagwort, DAS WIE IST DAS NEUE WAS (formuliert von André Wilkens als pointierte Zusammenfassung des Beitrags von Marc Grandmontagne, beschreibt nicht nur die Sehnsucht nach einer Veränderung, sondern paradoxerweise inzwischen auch die Realität der Theater heute ziemlich genau.

Es lohnt sich, die Beiträge der Jahreskonferenz in Gent unter dem Blickwinkel der Jetzt-Zeit noch einmal sehr aufmerksam zu hören und zu lesen. Denn die Fragen, die wir dort vor rund 250 Dramaturg*innen aus dem deutschsprachigen Raum sowie aus Belgien/Flandern gestellt haben, haben sich nicht nur nicht erledigt sondern im Gegenteil: Die suchenden und tastenden Antworten, die dort versucht wurden, erweisen sich in unserer Jetzt-Zeit mit ihrer Verlangsamung einerseits und der Verschärfung und Beschleunigung andererseits als enorm hilfreicher Kompass.

Theaterleiter*innen großer Institutionen, die in erstaunlicher Offenheit und Nachdenklichkeit von Unsicherheiten und Veränderungsprozessen erzählen und sich gegenseitig aufmerksam zuhören – das war schon vor Ort beeindruckend zu erleben, jetzt ist es ein stilbildender Austausch für die Situation, in der sich völlig unerwartet alle Theaterleiter*innen befinden. Schon in Gent hatte sich das Gefühl eingestellt, dass die Zeit der Lautsprecher und Selbstgewissen womöglich vorläufig zu einem Ende kommt; es ist die Zeit der Tastenden, der Suchenden, der Fragenden. Das ist, mindestens im Zusammenhang mit Kunst, immer gut.

Tunde Adefioye wies im Beitrag der Koninklijke Vlaamse Schouwburg (KVS) über CITY DRAMATURGS darauf hin, dass Veränderungsprozesse ohne Schmerz nicht zu haben seien. Unter anderem diese Aussage zeigt, dass die Theater gegen das Erstarken des Autoritarismus verstärkt auf Offenheit setzen, auf ein Zusammenwachsen künstlerisch innovativer Einrichtungen, auf das Vorantreiben von De-Hierarchisierungsprozessen. Und der spontane Austausch zwischen Adefioye und Julia Wissert darüber, wie man ein Theater in die Stadt öffnen kann, zählte sicherlich zu den inhaltlichen Höhepunkten der Konferenz.

Eingeladen von den Leitern der Genter Institutionen NTGent und Opera Ballett Vlaanderen, Milo Rau und Jan Vandenhouwe, fand die Jahreskonferenz zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert (und erst zum zweiten Mal in der Geschichte der DG) außerhalb des deutschsprachigen Raums statt; eine sehr bewusste Entscheidung in einer Zeit des Wiedererstarkens der Nationalismen und der vielfältigen Spaltungen der europäischen Gesellschaft(en).

Die Tagung beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Theaterstrukturfragen und war auch deshalb in besonderer Weise von Gesprächen und Austausch gekennzeichnet; gerade darin lag ihre besondere Qualität. Uns erscheint es für viele Formate sinnvoller, sie mit Videomitschnitten oder in Blog-Posts zu dokumentieren, als in gedruckte Form zu pressen. Und auch im Vorgriff auf die kommende Konferenz zu Performing Arts und Digitalität in Dortmund (im Moment geplant für den 21.-24. Januar 2021) erfolgt die Dokumentation einer DG-Jahrestagung diesmal erstmals online – wir verwenden die Ressourcen für die die dringend notwendige und lang erwartetete Neugestaltung des Online-Auftritts der DG, die Ihr hier seht. Wir dokumentieren u.a. die Eröffnungsrede von Luanda Casella, die über die ethischen Implikationen von Sprache reflektierte und auf die Konsequenzen ihrer inhärenten Gewalt hinwies: „Sprache entscheidet, wer leben darf, und wer sterben muss“. Wir haben die frei gehaltene Genter Rede von Marc Grandmontagne verschriftlicht, in der er über die Logik der Herabsetzung in öffentlichen Gesprächen sprach, die dazu führe, dass Menschen sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs zurückzögen. Jakob Weiss berichtet über das Dramaturgie-Netzwerktreffen, Anna Gubianis Erfahrungsbericht deutet an, wie weit postmigrantischer Diskurs und mehrheitsgesellschaftliche Praxis in der Theaterlandschaft noch auseinanderklaffen. Auch das Podium über Neue Häuser für die Zukunft und das Abschlusspanel zu The Art of Resistance kann man nachschauen/nachhören.

In den nächsten Wochen werden wir weitere Beiträge zur Genter Tagung online stellen, u.a. Thesen aus dem Gespräch Queering the Institutions weiterdenken. Unsere Zusammenfassung der Tagung findet sich hier .

Durch die Corona-Krise sind gesellschaftliche Schwachstellen sehr deutlich geworden und auch die Probleme der Theaterlandschaft in ein grelles Licht getaucht, z.B. die Unterfinanzierung vieler Institutionen und ein zu stark auf Projektarbeit orientiertes Fördersystem, das Ungleichgewicht zwischen dem (oft gewerkschaftlichen vertretenen) großen „Theater-Apparat“ und den prekären und fragilen Arbeitsverhältnissen der künstlerischen Mitarbeiter*innen und deren mangelnder sozialer Absicherung. In den letzten Jahren war durch die kulturpolitischen Diskussionen und die Arbeit der Interessensverbände viel in Bewegung gekommen – wir werden sehen, was davon noch bleibt.

Wir werden alle gemeinsam die öffentlichen Räume neu aufbauen müssen. Tun wir das mit Weitblick. Gerade eine verwundete Gesellschaft braucht Orte, wo sie das Misstrauen wieder verlernen kann, wo die zwischenzeitlich segregierten Gefährdeten zu Wort kommen können, wo sie wieder sichtbar werden, wo man das Verbindende wiederentdecken kann: Wo die COMMONS neu definiert werden.

 

Der Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft:

Kathrin Bieligk (stellvertretende Vorsitzende), Uwe Gössel, Kerstin Grübmeyer, Dorothea Hartmann, Karin Kirchhoff, Beata Anna Schmutz, Harald Wolff (Vorsitzender)

mit Jana Thiele (Geschäftsführerin) und Raffaela Phannavong (Geschäftsstelle)