Blog

Dramaturg*in mit Migrations­hintergrund erwünscht – vielleicht!

Ein Bericht aus einer Theaterlandschaft in Bewegung von Anna Gubiani

Das deutsche Theater befindet sich auf einer hartnäckigen Suche nach Diversität. Dieser Prozess hat im deutschsprachigen Raum schon vor einigen Jahren angefangen und neben „diverseren Ensembles“ oder auch Partizipationsprojekten ist eine seiner Facetten auch die Suche nach Dramaturg*innen mit „Migrationshintergrund“. Die diesjährige Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft fand in Belgien statt, einem sprachlich und kulturell diversen Land, dessen Theaterlandschaft diese Diversität bereits viel stärker abbildet, als das in Deutschland bisher der Fall ist. Die Themen der Konferenz spiegelten sowohl die Suche des deutschen Theaters als auch die bereits vorhandene Vielfalt des belgischen wieder.

Was könnte also naheliegender sein, als im Kontext dieser Tagung auch die Frage nach „diversen Dramaturgien“ zu stellen und zu vertiefen? Ich hatte dieses Thema in dem Format „BarCamp“ platziert und dort mit einigen anderen Tagungsteilnehmer*innen diskutiert und möchte es gerne in Form dieses Essays zur Dokumentation der Tagung beisteuern.

Dramaturg*innen gehören zur Leitung eines Theaters, sie sind dessen „Denker*innen“, stehen am Anfang der Theaterproduktionskette und haben mehr Einfluss als andere auf das „Wesen“ einer Institution, also auch auf deren Diversität. Insbesondere dann, wenn sie selbst einen Migrationshintergrund haben. So die Theorie. Aber stimmt sie überhaupt? Wird das Theater automatisch diverser, weil eine Person in der Dramaturgie durch ihre Herkunft zumindest nach außen „Diversität“ verkörpert? Und: Gibt es sie eigentlich, die Dramaturg*innen mit Migrationshintergrund? Offensichtlich ist der Diversitätsanspruch bei Dramaturg*innen sehr schwer umzusetzen, wenn nicht gar gänzlich zum Scheitern verurteilt. Das wissen nicht nur die – überall so dringend gesuchten – Dramaturg*innen mit Migrationshintergrund sondern alle Dramaturg*innen und anderen Menschen, die versuchen, sich im deutschen Theatersystem für Diversität und für neue Arbeitsmethoden einzusetzen.

Warum ist das so?

Als eine mögliche Antwort möchte ich meine eigene Geschichte als Dramaturgin mit Migrationshintergrund als Beispiel nehmen, in der Hoffnung, dass durch den Vergleich mit ähnlichen Erfahrungen am Ende ein Muster zu erkennen sein wird.

Vorab: Als „Menschen mit Migrationshintergrund“ möchte ich diejenigen bezeichnen, die eine andere Kultur als die deutsche gut kennen und deren (andere?) Herangehensweisen, Denkweisen und Handlungsweisen anwenden können. Für den „Migrationshintergrund“ spielt es in meiner Definition keine große Rolle, wo ein Mensch geboren wurde. Ich zum Beispiel bin nicht in Deutschland geboren. Die offizielle Bezeichnung „Migrationshintergrund“ aus dem Amtsdeutsch wird dann angewandt, wenn mindestens ein Elternteil einer in Deutschland lebenden Person aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert ist. Oder natürlich beide Eltern – oder die Person selbst.

Als ich 2007 aus Italien nach Deutschland kam, war ich knapp 30 Jahre alt und sprach gebrochenes Deutsch. Ich hatte in Italien Dramatisches Schreiben und Theaterwissenschaft studiert und zudem meine Magisterarbeit über den Beruf des Dramaturgen in Deutschland geschrieben (denn dieser Beruf existiert in dieser Form in Italien nicht, aber es gibt eine Auseinandersetzung mit ihm). Ich wollte damals unbedingt eine Arbeitserfahrung im deutschen Theatersystem machen, also bewarb ich mich überall in Deutschland. Von den dreißig kontaktierten Theatern waren drei interessiert und eines traute sich schließlich auch, mir ein viermonatiges Praktikum mit einer kleinen finanziellen Unterstützung anzubieten. Damals waren wir Pioniere und die gemeinsame Erfahrung war gut. Ich bemühte mich sehr, meine Sprachkenntnisse zu verbessern, das deutsche Theatersystem zu verstehen und mich darin zurechtzufinden. Am Ende wurden aus dem Praktikum zwei erlebnisreiche Spielzeiten als Dramaturgieassistentin und ich erhielt eine Weiterempfehlung, in der als Besonderheit hervorgehoben wurde, dass ich „Europäerin“ sei (was zeigt, dass ich im Vergleich zu Menschen mit Migrationsgeschichte aus dem außereuropäischen Ausland in Deutschland eine privilegierte „Ausländerin“ bin – und damit sicher auch eine privilegierte Dramaturgin mit Migrationshintergrund). Diese zwei Jahre machten mir Mut, eine Chance für eine berufliche Zukunft am deutschen Theater zu sehen. Erst recht, wenn ich meine Sprachkenntnisse noch weiter verbessern würde!

An meinem Theater kam es zu einem Intendantenwechsel. Leider hatte die neue Leitung kein Interesse, sich mit dem Thema „diverse Dramaturgie“ weiter zu beschäftigen. So wurde ich erstmal für ein Jahr als Regieassistentin beschäftigt. Ich versuchte, das positiv zu sehen: So würde ich nicht nur die Sprache, sondern auch das gesamte System besser kennenlernen. Nach diesem Jahr bewarb ich mich erneut und erhielt schließlich eine richtig „gute“ Stelle als Dramaturgieassistentin mit eigenen Dramaturgien an einem viel größeren Haus. Mein Plan schien aufzugehen!

Doch dass ich dort engagiert wurde, war nicht so selbstverständlich, wie ich damals dachte und wie es heute vielleicht scheint. Die Zusage verdankte ich zum einen der Offenheit der damaligen Kolleg*innen, die trotz interner Debatten ihrer Lust auf Internationalität und besonders auf etwas „Experimentellem“ folgten. Dazu kam, dass die Dramaturgie so groß war, dass sich das Haus eine kleine „Zumutung“ leisten konnte. Allerdings erhielt ich nur Ein-Jahres-Verträge, so dass mein Engagement auch schnell beendet werden konnte, und meine Position blieb (trotz der eigenständigen Dramaturgien) immer noch im geschützten Bereich der Assistenz.

Ich fand es damals nicht einfach, mir eine klare Rolle aufzubauen – und meinen Kolleg*innen muss es ähnlich gegangen sein. Es fehlte an Beispielen, es gab keine Richtlinien, was man als Dramaturg*in mit Migrationshintergrund „anders“ hätte machen können oder sollen. Schließlich ging es immer noch darum, innerhalb eines bestehenden Theatersystems zu arbeiten und es zu bedienen – keineswegs es neu zu gestalten. Die Anpassung bzw. Veränderung des Systems stand, soweit ich das erkennen konnte, nie zur Debatte.

Und das war damals wie heute der Kern des Problems: Diversität impliziert die Möglichkeit, etwas neu zu denken – und zwar grundsätzlich. Denn wozu sollten wir uns sonst mit Diversität beschäftigen oder sie vorantreiben, wenn eigentlich alles gleichbleiben soll? Wenn man wirklich mit Menschen arbeiten will, die andere Arbeits-, Handlungs-, Herangehens- und Denkweisen in die Theater einbringen können und sollen, dann muss man bereit sein, das gesamte System und also auch sich selbst in Frage zu stellen und sich für Neues zu öffnen. „Diversität“ als ein oberflächliches, quasi kosmetisches, nur auf einzelne Aspekte zielendes Projekt ist unter anderem deshalb zum Scheitern verurteilt, weil es die Person(en), die mit ihrer Herkunft diese Diversität verkörpern sollen, in eine absurde Situation bringt: Anders zu sein in einem System, das gleichbleiben will.

Als die Intendanz zu Ende ging, bewarb ich mich mit vielen guten Ideen im Gepäck an verschiedenen Häusern – und landete hart in der Realität. Plötzlich traute sich keiner mehr, einer Person mit offensichtlichem Migrationshintergrund eine volle Stelle als reguläre Dramaturgin zu geben, auch nicht als „Experiment“. Es waren die Spielzeiten 2012/13 und 2013/14. Ich bekam fast immer eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Alle wollten mich kennenlernen: das Experiment erschien erst einmal allen spannend. Meine Stellensuche wurde zu einer Reise durch die Dramaturgien und Leitungen (fast) der gesamten deutschen und österreichischen Theaterszene. Ich wurde von 17 Theatern eingeladen: Die hohe Zahl ermöglicht es mir, eine konkrete und persönlich erlebte Statistik der Reaktionen der Theaterwelt auf meinen Lebenslauf und meine Person zu erstellen, die vielleicht auch heute noch aufschlussreich ist.

Natürlich gibt es immer verschiedene Gründe, warum ein Engagement zustande kommt oder gerade nicht, aber ich bin bis heute fest davon überzeugt, dass die Absagen in der Regel direkt mit meinem Migrationshintergrund zu tun hatten. Manchmal war das offensichtlich, etwa wenn ich in Vorstellungsgesprächen Fragen zu hören bekam wie „Und wie können Sie Schiller verstehen?“ oder „Haben Sie die Texte der Aufführung verstanden? Es wird sehr schnell gesprochen!“. Häufig waren die Fragen indirekter, aber ich spürte, dass sie das gleiche Ziel hatten: zu überprüfen, wie anpassungsfähig bzw. wie „deutsch“ ich war.

Jetzt könnte man argumentieren, dass der besonders gewandte Umgang mit der deutschen Sprache eine zentrale Fähigkeit von Dramaturg*innen sein sollte. Ich empfand diese Sichtweise damals schon als oberflächlich und vermute bis heute, dass den Theatermacher*innen, die mich einluden, zumindest unterbewusst schon klar war, dass Theater nicht nur aus Sprache besteht. Und dass die Sprache selbst niemals als der einzige echte Wert im Theater zu verstehen sein sollte. Sie ahnten auch damals schon, dass ein großes Potenzial in meinen Worten steckte, als ich betonte, wie spannend es sei, dass ich jedes einzelne Wort sehen und spüren konnte, gerade weil kein einziges deutsches Wort für mich selbstverständlich sei. Eine Dramaturgin sollte einen guten Blick auf Texte mitbringen – so stand es eigentlich in jeder Beschreibung des Berufs! Also Liebe zur deutschen Sprache und ihrer Musikalität und ein gutes Bauchgefühl für die Kraft der Sprache. Und das alles hatte ich.

Insgeheim wussten die deutschen Theatermacher*innen wohl auch, dass sich das deutsche Theater gerade durch seine Fixierung auf Sprache und Text als ein steifes System etabliert hatte, während in anderen Ländern Theater viel mehr ein Erlebnis aller Sinne war. Aus meiner Sicht ist dieser Kritikpunkt am deutschen Theater auch heute noch relevant.

Alles in allem war das Argument „Sprache“ also sehr fragil, um eine Skepsis mir gegenüber zu begründen. Ich hätte nur einen Grund als nachvollziehbar akzeptiert: Wenn sie zugegeben hätten, dass Dramaturg*innen heutzutage hauptsächlich als Werbetext-Schreiber*innen arbeiten – aber das hätte ein unangenehmes Eingeständnis bedeutet oder eine Beleidigung des Dramaturgieberufs. Lessing hätte sich sicher vor Scham im Grab umgedreht! Also blieb die Ehrlichkeit aus und ich stand weiter „unter Verdacht“, ich könne mit der deutschen Sprache nicht ausreichend gut umgehen.

Manchmal waren die mir gestellten Fragen im Bewerbungsgespräch aber auch ganz normal: Es ging um Arbeitsweisen, Stücke, Theatergeschichte, gesellschaftlich relevante Themen. In diesem Fall war es für die „Prüfer“ sehr schwierig, eine Bestätigung für ihre Ängste zu finden. Ich kannte die deutsche Arbeitsweise, ich kannte die Theatergeschichte und die deutsche Gesellschaft. Und trotzdem sah ich das Fragezeichen in ihren Augen. Es waren die Theater, die mir später sagten, ich wäre auf „Platz zwei“ gewesen – und auf diesem Platz landete ich zu oft, um die Relevanz dieses Vorgangs in der Statistik zu ignorieren – und mich „lobten“, indem sie mir das sagten. Das Lob klang ziemlich echt. Es waren die Theater, die sich wahrscheinlich gerne was getraut hätten, aber sich dann doch lieber auf das Bekannte und Gewohnte verließen. Eine Zusage bekam ich übrigens auch, aber da hatte ich nicht das Gefühl, als Person wirklich gesehen zu werden, also verzichtete ich auf das Angebot.

Aus all diesen Gesprächen kam ich ziemlich verwirrt heraus: Was hatte das alles zu bedeuten? Ich sah zwei Lösungen des Problems: Entweder meine „Besonderheit“ zu verstärken und dann eher für die Freie Szene zu arbeiten, oder: wie eine „deutsche Dramaturgin“ zu werden, mich also noch mehr anzupassen, meine Besonderheit – die Diversität!– zum Verschwinden zu bringen.

Ich entschied mich für den zweiten Weg. Ich hatte das deutsche Theatersystem zu sehr schätzen gelernt, um einfach darauf verzichten zu können. Außerdem reizte es mich, den ängstlichen deutschen Theatern zu beweisen, dass auch ich in der Lage sei, mich in eine „deutsche Dramaturgin“ zu verwandeln. Über die Jahre ist mir das auch gelungen. Heute arbeite ich als etablierte Dramaturgin, voll ins System integriert und keiner stellt mich mehr in Frage. Aber war das wirklich der Sinn der Sache? Hätte meine „Diversität“ nicht eigentlich genutzt werden sollen und können? Als Vorteil, als Angebot, als Erweiterung?

Ich kenne einige Kolleg*innen, denen es ähnlich ergangen ist wie mir. Leichter hatten es die, deren Kultur der deutschen ähnlich war. Schwerer hatten es die, die aus „fremderen“ Kulturen kamen. Ich weiß von vielen, die aufgegeben haben, weil ihnen der Weg der Anpassung nicht gelungen ist oder sie ihn nicht gehen wollten. Ich sehe beides als ein Scheitern an: Die, die sich aus dem Theatersystem zurückgezogen haben, sind daran ebenso gescheitert, wie ich, die geblieben ist, aber sich so verändern musste, dass man sie nicht mehr als „divers“ – oder als eigen? – erkennen konnte.

Das eigentliche Scheitern aber erlebt natürlich das Theatersystem selbst, das sich gerne diverser aufstellen will – und es eindeutig nicht schafft. Im Ergebnis haben Dramaturg*innen mit Migrationshintergrund oder internationale Dramaturg*innen noch keinen großen Platz im deutschen Theatersystem gefunden. Es gibt sie, wie mich, aber sie sind wie sehr seltene Pflanzen, nach denen man lange suchen muss.

Das deutsche Theatersystem – und damit erstmal auch alle seine Vertreter*innen – hat die Tendenz, sich selbst absolut zu setzen, also, die Wahrheit darüber, wie „gutes“ oder „richtiges“ Theater geht, zu kennen. Dramaturg*innen, die von diesem System als „anders“ markiert werden, weil sie aus einer anderen (Theater)kultur kommen, sind daher mit einer „mixed message“ konfrontiert: Bring Deine Andersartigkeit ein, als „Experiment“, Farbtupfer etc. – aber stelle ja nicht das System in Frage. Dabei könnten gerade sie dem System konkret helfen, in einer Zukunft zu überleben, in der es so starr wie jetzt sowieso nicht überlebensfähig ist.

Dramaturg*innen mit Migrationshintergrund können nicht nur in der Spielplangestaltung anders mitwirken, indem sie „andere“ Autor*innen und Geschichten vorschlagen. Sie bringen vielmehr andere Denk- und Arbeitsweisen ein, die neue Zugänge zum Theater schaffen. Sie können helfen, andere Schichten der Bevölkerung anzusprechen, die normalerweise nicht ins Theater kommen. Sie können den Theatermacher*innen Impulse geben, neue Wege der Kommunikation und des Theaterverständnisses auszuprobieren. Sie können den gesamten Theaterbetrieb von seinen inneren und äußeren Grenzen befreien und für andere, neue Theaterdenker*innen und -macher*innen Platz schaffen. Sie können die Diversität ihrer Umgebung fördern, andere dazu auffordern, ihre eigene Diversität zu entdecken, sie können uns alle zur Freiheit des Denkens einladen, so lange, bis jede und jeder von uns als Individuum und Teil der Diversität angesehen wird. Der Preis dafür ist, dass wir unsere Wahrheiten, unsere Sicherheiten, unsere Methoden und unser Wissen in Frage stellen lernen.

Auf dem Papier ist dies ein wunderschönes Konzept. In der Praxis – das ist mir bewusst – ist das eine der schwersten Aufgaben, die es zu bewältigen gibt. Aber die Zeit für eine Veränderung ist längst gekommen.