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Pressemitteilung 13.6.23
Theater im Kapitalozän
Neue Vorsitzende der Dramaturgischen Gesellschaft: Esther Holland-Merten
Neue stellvertretende Vorsitzende der Dramaturgischen Gesellschaft: Kerstin Grübmeyer
Neu im Vorstand: Antigone Akgün und Michael v. zur Mühlen
Weiter im Vorstand: Kathrin Bieligk, Jasmin Maghames, Beata Anna Schmutz
Neuer Vorstand der DG
Die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft ist am Sonntag, 11.6., nach vier Tagen zu Ende gegangen. Die Mitgliederversammlung der Dramaturgischen Gesellschaft hat am selben Tag Esther Holland-Merten einstimmig zur neuen Vorstandsvorsitzenden der Dramaturgischen Gesellschaft gewählt. Neu in den Vorstand wurden außerdem, ebenfalls einstimmig, die Regisseurin, Autorin, Performerin und Dramaturgin Antigone Akgün und der Regisseur Michael v. zur Mühlen gewählt. Der bisherige Vorsitzende Harald Wolff stellte sich nach acht Jahren im Vorstand, davon sechs als Vorsitzender, auf eigenen Wunsch nicht erneut zur Wahl. Auch Dorothea Hartmann trat nach sechs Jahren Vorstandstätigkeit auf eigenen Wunsch nicht erneut an. Der Vorstand würdigte die Arbeit von Harald Wolff, der Aktionen wie “40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten” mitinitiierte (ausgezeichnet mit dem Perspektivpreis des Theaterpreises DER FAUST) und maßgeblich die Konferenz “DiG IT ALL” während der Pandemie gestaltete, und Dorothea Hartmann, die die Perspektive des Musiktheaters nachhaltig in den Konferenzen der letzten Jahre verankerte.
Klima, Krieg, KI: Epochenbrüche, keine vorübergehenden Veränderungen
Die Jahrestagung mit dem Titel “Have you tried turning it off and on again – Theater für eine Welt im Schleudergang” der dg am Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr fand auf Einladung des Impulse Theater Festivals als Akademie #1 des Festivals vom 9.-11.6.23 statt. Sie ging der Frage nach, wie Theaterschaffende und Kulturinstitutionen mit den Epochenbrüchen unserer Zeit umgehen können, deren Gleichzeitigkeit in ihrer Komplexität überfordern, und worin mögliche Orientierungspunkte liegen könnten. Denn die Grundlagen menschlichen (Zusammen-)Lebens verändern sich gerade fundamental: ökologisch durch die Klimakrise, politisch durch die gewaltsame Neuordnung der Beziehungen zwischen Staaten und Machtblöcken infolge des russischen Angriffskrieges und kulturell durch das Zeitalter der digitalen Kommunikation und der Entwicklung sogenannter Künstlicher Intelligenz.
Vernichtung ukrainischer Kultur als Kriegsziel
Die eingeladenen Referent*innen vertraten deutliche, oft schmerzhafte Standpunkte. So konstatierte Vasyl Cherepanyn, Leiter des Visual Culture Research Center (VCRC) in Kiew und Organisator der Kiew Biennale, dass der Antifaschismus in Europa in den Kulturbereich gewandert sei. Im Krieg gegen Russland müsse es aber darum gehen, Antifaschismus wieder als staatliches Handeln zu re-etablieren, forderte Vasyl Cherepanyn. „Sprache ist entscheidend. Denn die Sprache darf nicht versagen, wie die Politik es getan hat“. Er warnte eindringlich davor, den Stellenwert von Kultur in diesem Krieg zu unterschätzen: „Kultur ist kein sicherer Hafen, in dem man sich vor den Grausamkeiten verstecken kann. Die Kultur ist das Ziel dieser Grausamkeiten: Sie ist es, die zerstört werden soll“.
Auch die Historikerin Elzbieta Korolczuk warnte vor einem neuem Faschismus. Sie wies darauf hin, dass der Anti-Gender-Diskurs benutzt werde, um Gewalt gegen Minderheiten und Krieg zu legitimieren: “Wenn Gewalt gegen Minderheiten als Schutz von Gesellschaft verkauft wird, ist das ein Merkmal aufkommenden Faschismus”, so Korolczuk.
Nikita Dhawan, eine Ikone postkolonialer Theorie, rief dazu auf, die Aufklärung vor den Europäer*innen zu retten und schlug gleichzeitig im Hinblick auf die eigene Forschungsdisziplin im Anschluss an Cherepanyn selbstkritische Töne an: der Postkolonialismus-Begriff sei zu eng gedacht gewesen, man müsse ihn mit Blick auf Osteuropa (bzw. in der Selbstbeschreibung der gemeinten Staaten: die Mitte Europas) neu fassen. Geografiehistoriker Jason Moore forderte in seinem Vortrag, sich vom anti-politischen Begriff des Anthropozäns zu trennen und die aktuelle Ära des “Kapitalozäns” als revolutionären Moment der Möglichkeit eines neuen Klassenkampfs zu begreifen. Die Klimakrise bloß abstrakt als von Menschen gemacht zu erzählen, vernachlässige die dahinter liegenden Macht- und Ausbeutungsbeziehungen als eigentliche Ursache.
Eine Sprache der Verknüpfung – Wahrnehmung neu lernen
Der Kulturwissenschaftler Felix Stalder wies auf die widersprüchliche Rolle neuer Technologien und Digitalisierungsprozesse hin. Einerseits falle der Beginn des exorbitanten CO2-Anstiegs historisch mit dem Aufbau digitaler Infrastrukturen durch die Erfindung des Computers zusammen, die in zuvor ungekannter Weise Effizienzsteigerungen ermöglichten – andererseits stellten aber gerade diese Technologien auch die Grundlage für eine andere Weltbeziehung bereit: Für neue Formen komplexer Verknüpfung und eine Wahrnehmung, die nicht mehr den Menschen alleine im Zentrum sieht. Dazu brauche es aber auch eine neue Sprache der Relationen statt einer Sprache der Identitäten. Was bisher fehle, sei insbesondere eine neue Ästhetik der Verbundenheit in der Differenz.
Für den am Complexity Science Hub Vienna forschenden Wissenschaftler Daniel Kondor sind komplexe Systeme keine Besonderheit der Gegenwart, so dass es für ihn eher darum geht, wie Methoden für deren Handhabe gefunden werden können. Innerhalb einer internationalen Forscher*innengruppe, die sich dem Aufbau der Crisis Data Bank widmet, ist es sein erklärtes Ziel, klar definierbare Faktoren herauszubekommen, die zu Krisen innerhalb komplexer Systeme führen als die Krisen an sich vorhersagbar und vermeidbar zu machen.
Neben diesen wissenschaftlichen Inputs nahmen die insgesamt rund 150 Besucher*innen der Konferenz an dutzenden weiteren Tischgesprächen, Lecture Concerts, Performances und Installationen verschiedener Theaterschaffender im Ringlokschuppen Ruhr und der Camera Obscura in Mülheim an der Ruhr sowie am Showcase und Partys des Impulse Theater Festivals in Düsseldorf und Köln teil. Die Akademie „Have you tried turning it off and on again?“ war eine Kooperation der Dramaturgischen Gesellschaft mit dem Impulse Theater Festival.